Der Baum steht da und schweigt.

Ein Pärchen, tief verstrickt im Streit,
fast schon zu einer Trennung bereit,
bleibt stehen, mustert gedankenverloren
den Baum, der vor Jahrhunderten geboren –
entdecken – wie es der Menschen Sünde –
die Namen von Liebenden geritzt in seine Rinde.
Sie schauen sich an und sinken sodann
mit Zärtlichkeit im Herzen einander in den Arm…

Und der Baum steht da und schweigt.

Im Schatten der Äste Gestalten huschen,
im Rauschen der Blätter läßt sich vieles vertuschen.
Gemurmelte Worte – nur für jene betimmt,
die Eingeweihte im Kreise der Verschwörung sind!
Geschmiedet werden Pläne mit lodernder Glut,
werden sie doch schließlich fordern einen hohen Tribut!
Blut wird fließen, und Unschuldige sterben,
weil sie Opfer einer politischen Intrige werden…

Und der Baum steht da und schweigt.

Und wieder versammeln sich an seinem Stamm
Menschen, gefangen in seinem Bann.
Sie sind auf der Suche nach dem Sinn des Lebens,
jeder überzeugt von der Richtigkeit seines Strebens,
finden gegensätzliche Gesetzmäßigkeiten
und verzetteln sich tief in nichtige Kleinigkeiten.
Der Baum, er kennt die Wahrheiten im Leben,
er könnte ihnen den Durchblick geben…

Doch der Baum steht da und schweigt.

In der finstren Nacht ein Mann sich an ihn schmiegt,
in des Baumes Schatten er sich in Sicherheit wiegt.
Auf dem Weg führt eine Frau ihre Gedanken spazieren,
sie ahnt nicht, was gleich endgültiges wird passieren.
Der Baum spürt eine unheilschwangre Spannung –
da verläßt der Mann raubtierähnlich seine Tarnung,
vollendet sein befriedigendes Werk und kichert –
ihr Blut langsam zwischen den Wurzeln versickert…

Und der Baum steht da und schweigt.

Ich lehne mein Ohr an ihn und lausche…

1999-08-05